MEIRION BOWEN - Articles & Publications

 

Britten und Tippett - Die Erneuerung der englischen Musik

Meirion Bowen (geb. 1940) erhielt seine musikalische und musikwissenschaftliche Ausbildung an den Universitaten Birmingham und Cambridge. Er wirkte u. a. als Producer bei BBC und betatigt sich als Musikschriftsteller in verschiedenen Fachzeitschriften und Zeitungen.

Viele Bucher und Artikel haben die Aufmerksamkeit auf das "frische Bluhen" der musikalischen Komposition im England des 20. Jahrhunderts gelenkt, das haufig als "zweite Renaissance" oder so ahnlich beschrieben wurde. Einerseits handelt es sich dabei teilweise gewi8 um eine Art nationaler Selbsterfahrung: Die Folksong-Bewegung, von Cecil Sharp und Ralph Vaughan Williams angefuhrt, sowie das neu erwachte Vergnugen an der Musik des 16. und 17. Jahrhunderts, eben der Musiker der "ersten" englischen Renaissance (die durch Schuler wie etwa R. O. Morris und E. H. Fellowes angeregt wurde), lie8en vielfach das nationale Erbe auf dem Gebiet der Musik erkennen. Wenige Komponisten blieben davon unbeeinflu8t. Andererseits haben die Komponisten seit Edward Elgar immer mehr unternommen, um dem verbreiteten Gerucht, demzufolge der kreative Musiker als Person von dubioser Moral und ungewisser Vermogenslage erscheint, entgegenzutreten. Es ist sicher, da8 das Schaffen der britischen Komponisten im 19. Jahrhundert nur wegen dieses sozialen Vorurteils derart eingeschrankt war. In dieser Zeit war das Komponieren lediglich als Freizeitbeschaftigung und Hobby beguter- ter Amateure respektabel, deren Bemuhungen sich im Rahmen bestimmter, erprobter Genres bewegten, namlich der Oratorien uber biblische Themen in der Art von Mendelssohn sowie der vokalen und instrumentalen Hausmusik.

Mit Edward Elgar anderte sich die Lage, und heute hat sich die Situation bereits in das Gegenteil gekehrt: Komponisten werden als Professionalisten betrachtet, sind als unent- behrliche Mitglieder universitarer Musikfakultaten akzeptiert und bekleiden als "ansassi- ge" Kunstler Positionen in ortlichen Gemeinschaften und Kunstzentren. Sie zeigen eine Vielfalt an Stilen und nahern sich gemeinsam der uberall in der Welt gepflegten Kunstmusik. Sie arbeiten innerhalb der gangigen Genres und experimentieren ganz frei bezuglich der Schaffung neuer Kategorien und Interpretationsmodelle. Sie haben auch wesentlich bessere Gelegenheiten, ihre Musik aufgefuhrt zu horen (namlich durch Organisationen wie die Society for the Promotion of New Music), und konnen auf ein Maximum an Flexibilitat bei der Auswahl der von ihnen gebrauchten Krafte zahlen, insbesondere, wenn sie fur solche Spezialisten-Ensembles wie die London Sinfonietta, Lontano, Capricorn, Aquarius und The Electric Phoenix (um nur einige zu nennen) schreiben. Ihre Werke konnen auch durch BBC oder andere Radiostationen ubertragen werden. Und insgesamt handelt es sich doch um eine gesunde und belebende Musiksze- ne, die eine breitgestreute internationale Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Keine Frage: eine zweite musikalische Renaissance machte sich im Lauf der letzten 50 Jahre in England bemerkbar!

Eigentlich gab es mehrere Phasen dieser Renaissance der britischen Musik des 20. Jahrhunderts. Die meisten wurden durch den Krieg oder unerwartete wirtschaftliche Flauten unterbrochen, welche die kunstlerischen Aktivitaten nicht weniger als das alltagliche Leben beeinflu8ten. Auch vor dem Zweiten Weltkrieg war die Musik gro8tenteils von einzelnen reichen Mazenen abhangig, wie z. B, von Sir Thomas Beecham, der zwei der Londoner Orchester grundete und einige Spielzeiten der Oper und des Balletts in Covent Garden finanzierte. Nach dem Krieg baute die BBC ihr gewaltiges Potential fur die Verbreitung der Kultur ebenso aus wie das British Council, und das Arts Council of Great Britain wurde als Brennpunkt der offentlichen Unterstutzung fur die Kunste gegrundet. Die musikalische Erziehung in den staatlichen Schulen wurde so umfassend - Jugendorchester profilieren sich nun uberall in England , dass nicht nur einen scheinbar unerschopflichen Vorrat an talentierten Interpreten und Komponisten gibt, sondern auch gro8e Reserven an kenntnisreichen Zuhorern, deren Unterstutzung wahrend der jahrlichen Saison der 13 Wochen andauernden Henry Wood Promenade Concerts evident wird.

Zwei Komponisten wurden rasch sogenannte "Galionsfiguren" fur den Aufschwung der Musik nach dem Krieg: Benjamin Britten (1913 1976) und Michael Tippett (geb. 1905). Die meisten ihrer Werke entstanden weitgehend unabhangig vom anderen; aber sie kannten und bewunderten einander von den fruhen vierziger Jahren an und arbeiteten gelegentlich gemeinsam an besonderen Projekten. Als Individualisten waren sie gro8e Au8enseiter. Beide waren Pazifisten, beide homosexuell, beide auch politische Dissidenten, wenngleich sie ihren Unmut nur dahin lenkten, Leuten in Notlagen, Arbeitslosen und Hungernden beizustehen (Tippett organisierte und dirigierte beispielsweise ein Orchester arbeitsloser Kino- und Theatermusiker). Vor allem ihre menschliche und kunstlerische Integritat beeinflu8te viele ihrer Anhanger.

Britten wie Tippett waren fiir eine Internationalitat in der Musik, obwohl sie in den vierziger und funfziger Jahren in erster Linie auf lokaler Ebene tatig waren. Brittens Grundung eines Festivals in Aldeburgh erreichte rasch weltweite Anerkennung, und an Tippetts Jahre als Musikdirektor am Morley College in London einem Institut fur Erwachsenenbildung, dessen erster Musikdirektor in der Zeit von 1907 24 Holst war - erinnert man sich heute noch. Wahrend der Kriegsjahre gewann er eine Anzahl von bedeutenden Fluchtlingen als Lehrer sowie als Interpreten der Konzerte, Musiker wie Walter Goehr, Walter Bergmann, Matyas Seiber oder auch drei Mitglieder des spater gegrundeten Amadeus-Quartetts. Diese Konzerte waren damals die internationalsten in London und schlossen die moderne Wiederauffuhrung von Monteverdis "Vesper" (1610), Strawinskys "Les noces", Hindemiths "Ludus tonalis", Frank Martins "Le vin herbe", Versanthems von Purcell und Gibbons ebenso wie Auffuhrungen der Musik von Tippett selbst und seiner Komponisten-Kollegen am College ein.

Tippett und Britten begegneten einander tatsachlich erstmals am Morley College, als letzterer zu Proben einer Ode von Purcell erschien, wobei der Tenor Peter Pears zur Teilnahme geladen war (neben dem Countertenor Alfred Deller, den Tippett in der Canterbury Cathedral "entdeckt" hatte). Sie wurden bald feste Freunde. Britten war Tippett behilflich, kleinere Auftrage fur neue Stucke zu erlangen, und begleitete Peter Pears bei den ersten Auffuhrungen zweier seiner Vokalwerke, namlich seiner Kantate "Boyhood's End" (1943) und des Liederzyklus "The Heart's Assurance" (1950 1951). Daruber hinaus ermutigte er ihn, die erste Auffuhrung seines Oratoriums "A Child of Our Time", das zur Zeit des Kriegsausbruches sehr rasch geschrieben wurde, zu arrangieren. "A Child of Our Time" war Tippetts Reaktion auf einen spezifischen Nazi-Pogrom gegen die Juden und der erste Versuch einer generellen Erklarung seines Mitgefiihls fur den "Sundenbock" der Gesellschaften aller Zeiten. Der Londoner Premiere im Jahr 1944 folgte bald eine Radioubertragung, und das Werk konnte kurz darauf in Holland, Hamburg und Ciberall in Europa gehort werden, ebenso bei einer 1952 in Turin von Herbert von Karajan geleiteten Auffuhrung. Auch in Zeiten, als Tippetts Ruf in Frage gestellt wurde, erfreute sich dieses Werk nach wie vor der Anerkenung und Wurdigung; heute wird es in vielen Landern der ganzen Welt, sogar in Zambia, Tokyo, Perth und Sao Paulo, gespielt.

Inzwischen hatte Brittens Oper "Peter Grimes" ihre Premiere (1945), und zwar im Rahmen der Wiedereroffnung von Sadler's Wells Opera nach dem Krieg. Nach und nach erwies sich dies als historischer Moment der britischen Oper, da sich hier ein junger, unabhangig gesinnter Komponist von bewahrter Genialitat und unmi8verstandlichem theatralischen Flair ankCindigte. In dieser Zeit meinte Britten zu Tippett, da8 er vor allem Opern schreiben wolle, da8 dies die Basis seiner kreativen Leistung sein wurde. Und er schrieb tatsachlich ein Gesamtwerk von 120pern, drei sogenannte "Parabeln" fur kirchenmusikalische Auffuhrungen, Begleitmusik fur Theater und Filme sowie eine Ballett-Partitur. Aber "Peter Grimes" bedeutet fur das restliche Oeuvre von Brittens Buhnenmusik soviel wie New York fur den Rest Amerikas. Denn in diesem Werk ist seine eigene Vitalitat wie auch sein Charakter verankert; eine derartige Virtuositat und Sicher- heit in der Behandlung von Gesangs- und Orchesterstimmen ist in jeder Epoche selten gewesen. Au8erdem birgt es eine aparte Klangwelt in sich, ohne von tonalen Methoden abzuweichen oder sich allzuweit von Verdischen Strukturen zu entfernen. "Peter Grimes" (wie "A Child of Our Time") dreht sich um einen Sundenbock, zwar nicht um jemanden, der in einen Konflikt mit politischen Gegnern geriet, sondern vielmehr ein gewohnliches, familiares Opfer wurde: um einen rauhen Fischer mit idealistischen Traumen, stolz und distanziert, der kampft, um sich in einer Gesellschaft behaupten zu konnen, die nur allzu bereit ist, ihn zu verfolgen. Wie Peter Grimes tendierten auch die meisten spateren Protagonisten in Brittens Opern zum Individualismus und erlitten Verfolgungen, sogar in seiner Kinderoper "Let's Make an Opera" (1949), in welcher "The Little Sweep" den Schlu8 bildet.

Obwohl sie sich zunehmend als ganz verschiedene Personlichkeiten entwickelten, hatten Tippett und Britten immer einen wichtigen Charakterzug gemeinsam: ihre Fahig- keit, englische Texte einpragsam in Musik zu setzen, ein interessantes Faktum, zumal ihre asthetischen Standpunkte bezuglich der Behandlung von Texten alles in allem doch sehr verschieden waren. Fur Britten waren Gesange das Resultat einer harmonischen Ehe zwischen Wort und Musik, beide auf sehr hohem Niveau ersonnen. Folglich war er immer bereit, gro8e Dichtungen der Vergangenheit zu verwenden, Werke von Shake- speare, John Donne, William Blake, Holderlin, Puschkin u. a., und er war auch bestandig auf der Suche nach Autoren qualitatvoller Texte, mit denen er bei Opernprojekten zusammenarbeiten konnte: So kam es zur Zusammenarbeit mit W. H. Auden (in seiner fruhesten Oper "Paul Bunyan"), E. M. Forster, William Plomer etc. Sie war weitaus schwieriger als die haufige Zusammenarbeit mit gro8en Interpreten (Clifford Curzon, Julius Katchen, Julian Bream, Mstislaw Rostropowitsch, Peter Pears, Dietrich Fischer- Dieskau, Kathleen Ferrier und Janet Baker), aber Britten hatte sich bei jedem unbehag- lich gefuhlt, der au8erstande war, seinen Qualitatsanspruch zu erfullen.

Tippett hingegen, der Kunstphilosophin Suzanne Langer und dem Rat sowie der Unter- stutzung T. S. Eliots folgend, nahm eine andere Haltung ein. Er fuhlte bald, da8 beim Proze8 der Vereinigung von Wort und Musik der essentielle metaphorische Inhalt der Worte von jenem neuen metaphorischen Sinn "verschlungen" wird, den die Musik besitzt. Die Verwendung eines von einem bedeutenden Autor gestalteten Textes konnte aiso das Risiko eines Konflikts mit seiner Musik in sich bergen. Und als er Eliot bat, ihm nach der Vorlage eines Szenariums ein Libretto fur "A Child of Our Time" zu schreiben, riet ihm Eliot, seinen Text selbst zu verfassen, da sein eigener Beitrag mit den immanenten Qualitaten von Tippetts Musik rivalisieren konnte. So schrieb bzw. kompilierte Tippett selbst die Texte seiner vier Opern und seines gro8ten Konzertstuckes, "The Mask of Time" (1980 - 82). Au8erst selten verwendete er einen bereits bestehenden Text, wie beispielsweise bei "The Vision of St. Augustine" (1963 - 65), der auf Augustinus' "Confessions" basiert und den er mit biblischen Texten verknupft hatte. Immerhin zeigt sich in seinen Gesangen und Chorwerken die Tendenz, Gedichte gema8 der jeweiligen Thematik zu manipulieren. Tippetts Libretti zogen Kritik nach sich, allerdings hat er immer darauf bestanden, da8 sie als "Texte fur Musik" und nicht als "Literatur" gelesen werden sollten. Und wie sich seine Musik auf stilistischer Ebene erweitert hatte, so geschah dies auch bei seinen eigenen Texten, die Zitate und sehr freie Bearbeitungen von anderen Autoren umfa8ten. Wonach er immer strebte, war eine Vermengung von Wort und Musik zu einer untrennbaren Einheit.

Ungeachtet dieser asthetischen Unterschiede arbeiteten Britten und Tippett zu Beginn ihrer reifen Periode an einem Purcell-Projekt, welches die dramatische Verstarkung der Worte und ihrer Klanglichkeit erforderte. Britten nahm diese Annaherung ohne Rucksicht auf die von ihm verwendete Sprache vor. Der Eroffnungsgesang seines Zyklus "On this Island" (zwei Gedichte nach Auden) zeigt eine typisch barocke deklamatorische Kraft (Notenbeispiel 1). Ahnlich beschwort das Streichorchester in "Les Illuminations" (basierend auf Gedichten von Rimbaud) zuerst die Brillanz von Trompetenfanfaren herauf und untermauert das wiederkehrende Motto "J'ai seul la clef de cette parade sauvage" mit schweren Pizzikatoakkorden (Notenbeispiel 2), damit es dem Gedachtnis eingepragt wird.

Nur wenige Jahre waren nach diesen Werken vergangen (1937 und 1938), als Tippett auf einige Bande der originalen Gesamtausgabe von Purceil stie8. (Er fand diese im Schutt des Morley College, das durch eine Landmine im Jahr 1941 getroffen wurde.) Nun studierte er Purcells Methoden hinsichtlich der Brauchbarkeit fQr seine eigenen Kompositionen und schritt bald darauf an die Ausfuhrung einer kontinuierlich im Stil von Purcell gehaltenen Kantate mit dem Titel "Boyhood's End" (1943), die auf der Autobiographie "Far Away and Long Ago" von W. H. Hudson beruht. Die Kantate ist fur ihre zumeist expressiven Details von subtilen Wortfarbungen und Purcellscher Melismatik durchdrungen, um Worten wie "uprising", "dance", "glist'ning", "floating" und schlie8- lich "ecstasy" Bedeutung zu geben. Das Werk hat auch, wie Peter Pears zeigen konnte, eine strukturelle Flexibilitat, die dazu fuhrt, da8 die maximale Intensitat im Ruckblick auf das Naturbewu8tsein der Jugend erreicht werden kann, was sowohl der Text als auch die Musik beinhaltet. Dies alles entsteht offensichtlich aus der Au8erung am Beginn "What, then, did I want?" (Notenbeispiel 3), wobei Musik und Worte einander exakt erganzen.

In ihren Buhnenwerken legten Tippett und Britten die Texte ebenfalls so an, da8 sie diese Zwecke erfullten. Ein gutes Beispiel mag die Arie sein, in welcher zu Beginn des 1. Aktes in Tippetts erster Oper die Morgendammerung und das Singen der Lerche gefeiert werden, oder Tarquinius' Ritt nach Rom in Brittens "The Rape of Lucretia". Indem sie die englischen Texte in chorische Zusamenhange setzten, hielten beide an der englischen Madrigaltradition fest. Darin unterscheiden sie sich ganzlich von ihren unmittelbaren Vorgangern und Zeitgenossen, wobei Holst die einzige Ausnahme ist. Waltons "Belshazzar's Feast" (1930 31) vielleicht das beruhmteste englische Chorwerk, das zwischen den Kriegen geschrieben wurde - kommt hingegen weder von der Purcell-Tradition noch von den Madrigalisten. Interessant ist, da8 im Kielwasser der Leistungen von Britten und Tippett jungere englische Komponisten - wie John Joubert, Gordon Crosse, Nicholas Maw und Robin Holloway viel Neues bringen konnten, insbesondere in der Vokalmusik. Obwohl ein distinguierter Zeitgenosse wie Alan Rawsthorne (1905 1971) exzellente Orchester und Kammermusik komponiert hatte, erfreute er sich eines relativ geringen Erfolges auf dem Gebiet der Vokalmusik. Allein Britten und Tippett schienen in der Lage gewesen zu sein, selbst erfinderisch zu wirken und viele Nuancen und Moglichkeiten allein durch ihr Konnen und die tiefe Einsicht beim Einrichten der Texte hervorzubringen.

Die beiden Komponisten begegnen uns gewi8 am offensten in ihren Opern. Brittens Opernschaffen entwickelte sich teilweise aus dem Drang, Opern fur Tourneen zu schreiben, die nur ein kleines Ensemble zur Begleitung benotigen. Daher entstanden Werke wie "The Turn of the Screw" (ein Maximum an Klangfarben durch ein Ensemble von nur 13 Spielern). Tippetts Opern, weniger an der Zahl, sind voneinander absolut verschieden gewesen. Die erste, "The Midsommer Marriage" (1946 52), war eine Komodie, die Mozarts "Zauberflote" und Shakespeares "A Midsummer Night's Dream" viel verdankt; die zweite, "King Priam" (1962), war ein Epos nach Brecht, die dritte und vierte "The Knots Garden" (1970) und "The Ice Break" (1977) - konnen als moderne Reinkarnationen von Shakespeares "The Tempest" und Tollers "Masse und Mensch" beschrieben werden. Die spateren Opern nahern sich den Kino- und Fernsehtechniken, wobei die Aktionen beschleunigt, die Ubergange eliminiert sowie Ruckblenden und Querschnitte von Episoden eingestreut wurden. Demgegenuber schrieb Britten eine Oper speziell fur das Fernsehen, "Owen Wingrave" (1971), die ofter "im Hause" erscheint als auf einer Buhne; er war aber nie wirklich glucklich uber dieses moderne dramatische Medium. Sein einsamer Ruckzug von den Methoden der Oper des 19. Jahrhunderts manifestierte sich in einer Folge von Kirchenparabeln "Curlew River" (1964), "The Burning Fiery Furnace" (1966) und "The Prodigal Son" (1968) , in welchen er Elemente aus den mittelalterlichen Kirchenspielen und dem japanischen No-Drama vermischt. So ist es beiden in ihren ureigensten Spharen gelungen, ihren musikalischen Stil unter dem Druck der dramatischen Bedingungen betrachtlich zu erweitern.

Britten und Tippett entwickelten ihren Personalstil teilweise durch Selbststudium, teils im Zuge eines intensiven Trainings mit einflu8reichen Lehrern Britten mit dem Komponisten Frank Bridge, Tippett wahrend eines einjahrigen Studiums der Fuge bei R. O. Morris. Wahrend einige ihrer Zeitgenossen ins Ausland gingen, um dort zu studie- ren und als Kosmopoliten zuruckzukehren (Nadia Boulanger konnte beispielsweise Lennox Berkeley fur ihre Klasse gewinnen), schienen Britten und Tippett von Natur aus auf die Musik aller Epochen und Kulturen reagiert zu haben; eine Art von Pluralismus durchdrang ihr Werk geradezu instinktiv. Tippett horte Negro-Spirituals im Radio und verwendete sie in seinem Oratorium "A Child of Our Time" als modernes Aquivalent zu den Choralen der Lutherischen Passion. Er horte auch Jazz und Blues, und seine harmonische Welt ist von Blues-Farben uberstromt vom 1. Streichquartett bis zu seinem Tripelkonzert. Beide Komponisten horten in den drei8iger Jahren balinesische Musik: Tippett auf einer Schallplatte, Britten durch den kanadischen Komponisten Colin Mc Phee, dessen Klaviertranskription von balinesischer Zeremonienmusik 1938 ihre Premiere hatte und danach aufgezeichnet wurde. Tippetts Reaktion bestand in der Aufnahme von Variationen im balinesischen Stif in den ersten Satz seiner Klaviersonate Nr. 1 (1934). Spater, 1978, besuchte er Bali und Java selber und horte eine Auffuhrung eines Gamelanorchesters, das nun die spezifisch technischen Merkmale seines Tripel- konzertes beeinflu8te (1978 79). Britten reagierte ebenfalls auf die balinesische Musik, vielleicht unbewu8t, im Saturday-Morning Interlude aus "Peter Grimes". Auch er bereiste spater Bali; aber nicht nur sein Ballett "The Prince of the Pagodas" (1957) beinhaltet ein gewisses Ma8 an indonesischem Einflu8, sondern auch die meiste seiner spateren Musik (speziell die Oper "Death in Venice"). Keiner der beiden Komponisten wurde ein leidenschaftlicher Befurworter des Schon- bergschen Zwolftonsystems. In dieser Hinsicht waren sie sehr weit von Personlichkeiten wie Elisabeth Lutyens (1906 1984) und Humphrey Searle (1915 1983) entfernt, dessen "einsame" Karriere durch seine Verpflichtung gegenuber der Tradition Weberns bzw. Schonbergs gekennzeichnet ist. Britten wurde in den drei8iger Jahren von einem Studium bei Alban Berg durch die engstirnige und mi8trauische Einstellung seitens der britischen musikalischen Kreise gegenuber den zeitgenossischen Entwicklungen auf dem Kontinent abgehalten. Tippett las Schonbergs "Harmonielehre" und andere Ab- handlungen, aber er gelangte zu dem Schlu8, da8 Dodekaphonie und Serialismus phanomenologisch falsch waren: theoretische und klangliche Resultate schienen ihm zu divergieren. Trotzdem naherten sich beide Komponisten bisweilen dodekaphonen Techniken. Brittens "The Turn of the Screw" beruht auf einem Zwolftonthema, aber nicht auf einer seriellen Struktur im Sinne Schonbergs. Die Oper besteht aus 15 Szenen und einem Prolog und ist mittels 16 Orchesterzwischenspielen (in Form eines Themas mit 15 Variationen) verknupft. Und in seiner "Cantata Academica" (1959) parodiert er die Zwolftontechnik, indem er als Grundlage der ersten zwolf Takte (der dreizehnte rekapitu- liert den ersten) die Abfolge von zwolf Tonen wahlte, die das Eroffnungsthema formt. Tippett umrei8t im Eroffnungsprelude "Storm" aus seiner Oper "The Knot Garden" auch unbewu8t ein Zwolftonthema; und seine verschiedenen Wiederholungen speziell in der verwirrenden Labyrinth-Episode im 2. Akt erfordern Kontraktionen und Expansionen des Themas, schlie8lich auch eine komplette harmonische und orchestrale Uber-nahme seiner Charakteristik in den Schlu8takten. Aber dies sind beilaufige, zufallige Geschehnisse, Momente, in denen die Komponisten fahig waren, musikalische Methoden einzubeziehen, deren pedantischen oder systematischen Gebrauch sie immer ablehnten.

Brittens Dominanz in der englischen Musik seit den vierziger Jahren basierte teilweise auf seiner Schaffenskraft, die sich auch darin zeigte, da8 man alljahrlich mit mindestens einem neuen Werk fur das Aldeburgh Festival rechnen konnte, wobei er immer seinen hohen Ma8stab zuverlassig erreichte. Au8erdem war er als Interpret und Dirigent sehr prominent. Britten und Tippett hatten sich zudem beide zur Musikerziehung verpflichtet. Britten schrieb eine Reihe von Kompositionen, die entweder ausschlie8lich von Kindern handeln oder in denen Kinder und Erwachsene gemeinsam auftreten: "Let's Make an Opera" (einschlie8lich "The Little Sweep") war sein erster Erfolg auf diesem Gebiet; "Noye's Fludde" (1957) geno8 die gleiche Beruhmtheit. Es war Musik, welche die Sinne und die Phantasie der Interpreten anregte, an der aber aufgrund ihrer einfachen Anlage jedermann Gefallen fand. Er schrieb viel fur Knabenstimmen, und in der "Missa brevis" (1959) wertete er besonders das nasale Timbre des Chors der Westminster Cathedral mit seinem kontinentalen Singstil aus, den er gegenuber den ublicherweise "heulenden" Stimmen der englischen Knabenchore bevorzugte.

Tippetts Oeuvre weist weniger Kompositionen fur Kinder oder Amateure auf, aber in einem oder zwei Werken zeigte sich auch seine Geschicklichkeit auf diesem Gebiet. "The Shires Suite" (1966 70) la8t die geschickte Verwendung eines gro8en Orchesters und eines kleinen Chores erkennen. Sie wurde fur das Leicestershire School-Sympho- nieorchester geschrieben eine der ganz hervorragenden Leistungen der staatlichen Musikerziehung in England , mit welchem Tippett einige Jahre als kunstlerischer Berater und Dirigent verbunden war. "The Shires Suite" ist eine kuhne, fast wilde Schopfung in der Art von Charles Ives. Viel geradliniger ist die Jahreszeiten-Kantate "Crown of the Year", die er 1958 fCir die Badminton Girl's School geschrieben hatte und die seine lebenslange Leidenschaft fur die Madrigale widerspiegelt.

Im Gegensatz zu Britten gelangte Tippetts Ruhm erst nach seinem 60. Lebensjahr an seinen Hohepunkt. Sein erster Besuch in Amerika im Jahr 1965 war eine Art "Wasser-scheide" fur eine gewaltige Liebesaffare zwischen diesem Land und dem Komponisten, der es als seine zweite geistige Heimat betrachtete. Tippetts Musik wird in den USA wahrscheinlich ofter gespielt als irgendwo in der Welt au8erhalb Englands, obwohl sein amerikanischer Erfolg ein breitgestreutes Interesse in Australien, im Fernen Osten und jungst auch in Europa, vor allem in Frankreich, weckte. War Britten niemals gliicklich, wenn er reisen oder langere Zeit au8erhalb von Aldeburgh leben mu8te, so liebte es Tippett au8erordentlich, ausgedehnte Reisen uberall in der Welt zu unternehmen. Wahrend Brittens Musik in zunehmendem Ma8 hart und streng geworden ist, breitete sich Tippett aus, um ein ganz neues Spannungsfeld von Ideen, Einflussen und Moglich- keiten zu umfassen. Brittens Orchesterwerke, Konzerte und Kammermusik haben selten so konstantes Lob und so gro8e Aufmerksamkeit erhalten, wie dies seinen Opern und Gesangen zuteil wurde. Aber Tippetts Symphonien, Klaviersonaten und Streichquartette (in jeder Sparte vier) sowie seine Konzerte werden heute als wichtigste Erganzung des jeweiligen Repertoires betrachtet.

Ruckblickend kann man die Entstehung eines Modells in Tippetts Oeuvre erkennen, wobei die wesentlichsten Aussagen gewissermassen in gro8dimensionierten Chorkom-positionen verkorpert sind; aus diesem Reservoir von Ideen schopfen dann auch die Instrumental-Kompositionen. Daher folgten beispielsweise seiner zweiten Oper "King Priam" unmittelbar die 2. Klaviersonate (1962) und das Concerto for Orchestra (1962), in welchem er nicht nur Zitate aus der Oper, sondern auch dieselbe Mosaik-Methode der Prasentation verwendet. Ein anderes Modell besteht darin, da8 diese gross dimensionier-ten musikalischen Aussagen bereits in fruheren Instrumentalstucken vorgeformt wurden. Der erste Satz seiner Symphonie ist in seinem originalen Zusammenhang eine deutliche Geburtsvision, da es sich bei diesem Werk um eine Art symphonisches Gedicht nach dem Vorbild von Strauss' "Ein Heldenleben" handelt. Die Symphonie, das Quartett und das Concerto beginnen samtlich mit diesem Schopfungs-Gedanken: und alle sind als einteilige Gemalde konzipiert, die zwar in sorgfaltig strukturierte Abschnitte zerfallen, die aber in ihrer Gesamtheit das gro8e Feld menschlicher Erfahrungen zu erfassen scheinen; in diesem Sinn also sind sie mikrokosmische Skizzen einer allumfassenden Darstellung der Evolution des Menschen in "The Mask of Time". Alle Facetten der musikalischen Sprache Tippetts wurden hier ins Spiel gebracht die rhetorische, die lyrische, die exotische, die intim-verhaltene und noch mehr.

Es ist diese Fahigkeit, musikalische Botschaften von gro8ter Bedeutung zu formulieren, die Britten und Tippett zu den vorherrschenden Personlichkeiten der britischen Musik seit dem Krieg werden lie8. Auf ihren unterschiedlichen Wegen haben sie die zentralen Bedurfnisse der Menschheit in diesem Jahrhundert erkannt. Beide hatten die intellektuelle Substanz und die technische Fertigkeit, Werke zu schreiben, die nicht nur fCir sich selbst, sondern fur die gesamte Gesellschaft, mehr noch: fur die menschliche Existenz im allgemeinen sprechen. Bedeutende Komponisten haben versucht, die Grausamkeit des Menschen zur Zeit des Krieges darzustellen, so beispielsweise John Foulds (1880 1939) in "A World Requiem", in welchem der Toten des Ersten Weltkrieges gedacht wird, oder Arthur Bliss in "Morning Heroes". Aber keines ist so aussagekraftig wie Tippetts "A Child of Our Time" und "The Mask of Time" oder Brittens "War Requiem" (1962). Schlie8lich setzten sich beide Komponisten fCir eine Erneuerung des menschlichen Geistes ein. In seinem Essay, in welchem er sich mit Holderlin als "poet in a barren age" identifizierte, fa8te Tippett seine und die Arbeit anderer Komponisten sehr uberzeugend zusammen ("Moving into Aquarius", 174, S. 155f.):

"Ich habe seit 40 Jahren Musik geschrieben. Wahrend dieser Jahre gab es gro8e und weltbewegende Ereignisse, mit welchen ich befa8t war. Aber gleichgultig, ob die Gesell- schaft Musik als wertvoll oder brauchbar bewertet hat: ich habe weiter komponiert, weil ich mu8te. Und ich wei8, da8 meine wahre Aufgabe darin besteht, in einer uns alle umfassenden Gesellschaft eine uralte Tradition fortzusetzen, welche die Basis unserer Zivilisation bildet, die in die Urgeschichte zuruckgeht und die in eine unbekannte Zukunft schreiten wird. Diese Tradition besteht darin, Bilder aus der Tiefe der Phantasie zu schaffen und ihnen entweder eine visuelle, intellektuelle oder musikalische Form zu geben. Denn nur durch Bilder kann die innere Welt uberhaupt kommunizieren: Bilder der Vergangenheit, Formen der Zukunft, kraftvolle Bilder fur eine dekadente Periode, ruhige fur eine gewaltsame Zeit, Bilder der Versohnung fur Welten, die durch Gegensat- ze entfernt sind. Und in einer Zeit der Mittelma8igkeit und der zerschlagenen Traume benotigen wir Bilder einer fruchtbaren, gro8zugigen und erfrischenden Schonheit."

 

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